Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
Pali - 01.12.2012
Bevor sich jemand freut - es geht nicht um eine Leitlinie zur Borreliose.
Im neuen Ärzteblatt wurde soeben die neue S3-Leitlinie
Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden veröffentlicht.
Was heißt dies für Borreliose-Patienten, deren Beschwerden oft nicht-spezifisch, funktionell und somatoform sind
Klingt für mich wie ein Leitfaden für Ärzte, wie ich nett mit Leuten umgehe, die in keine Schublade passen; dabei fehlt mir komplett die Option, zuzugeben, daß der Patient eine organisch bedingte Krankheit haben könnte, die man als Arzt eben nicht nachweisen kann.
Dafür gibt es Forderungen wie
" ein sinnvoller Endpunkt der somatischen Diagnostik soll festgelegt und eingehalten werden" - heißt dies etwa, daß nach einem Elisa kein weiterer Bluttest erfolgt?
Oder
"Abwarten somatischer Ausschluß-Diagnostik trotz Hinweisen auf phsychosoziale Belastungen ist kontraindiziert": heißt dies, daß meine Laborbefunde irrelevant werden, wenn ich Beruf, Haushalt und ein behindertes Kind unter einen Hut bringen muß, oder evtl. Arbeitslos bin, oder gerade meiene Eltern gestorben sind?
Oder: In der Liste der "Verbesserungen" zur bisherigen S2-Leitlinie steht der Satz:
Relativieren des wenig reliablen (zuverlässigen) Kriteriums der "medizinischen Unerklärtheit". Heißt dies, daß es keien Rolle spielt, ob eine organische Erkrankung geben könnte, wenn ich es nicht erklären kann, ist es eben psychisch?
Zugegeben, ich interpretiere es maximal negativ, und hoffentlich faßt es nicht jeder Arzt so auf - aber es wäre schon schade, wenn diese Leitlinie unentschlossene Ärzte in die von mir angedeutete Richtung drängen würde. Hoffen wir, daß die meisten Ärzte nicht die Leitlinien studieren, sondern lieber die Patienten.
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
Regi - 02.12.2012
Zitat:Hoffen wir, daß die meisten Ärzte nicht die Leitlinien studieren, sondern lieber die Patienten.
Wenn Ärzte nicht mehr weiterkommen, ist ihnen eine solche Leitlinie doch gerade willkommen. In die psychosomatische Schublade passt doch jeder, der nicht an einer der 50 häufigsten Krankheiten leidet.
Die MUS (Medizinisch unerklärbaren Symptome) sind eine grosse Herausforderung. Nun hat man diese Herausforderung mit einer S3-Leitlinie "Somatisierungsstörung" gelöst. Unsere Umwelt ist aber nicht mehr gleich, wie vor 40 Jahren. Luftverschmutzung, Umweltgifte, technische und mit Pestiziden behandelte Lebensmittel, Impfungen, Antibiotika in der Landwirtschaft, gentechnisch veränderte Pflanzen, durch grenzenlose Mobilität eingeschleppte Erreger, Vernachlässigung des Fachbereichs Infektiologie (von HIV und TB abgesehen) etc.. Davon will niemand etwas wissen und Forschung ist zu teuer...... Einfacher und billiger, den Ball an den Patienten zurückzugeben, sprich ihm die Schuld für sein Krankheit geben. Da ist man gut beraten, wenn man sich selber schlau macht.
LG, Regi
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
landei - 02.12.2012
Somatoforme und Dissoziative Störungen
Zitat:Postborreliose, Chronic Fatigue und Multiple Chemical Sensitivity
Die drei im Titel genannten Syndrome wirken auf den ersten Blick heterogen. Auf den zweiten lassen sich aber folgende Gemeinsamkeiten feststellen: Patienten, bei denen von Ärzten und z.T. in der Selbsthilfe- und Laienpresse derartige Syndrome diagnostiziert werden, klagen über unspezifische vorwiegend körperliche Beschwerden wie Erschöpfung, Schmerzen und Funktionsstörungen; das jeweilige Erklärungsmodell (chronische Borrelieninfektion, übermäßige Empfindlichkeit auch gegenüber unterschwelligen Chemikalien etc.) ist wissenschaftlich unklar bzw. umstritten, Psychosomatiker und Psychiater betonen die Nähe bzw. Zugehörigkeit derartiger Syndrome zu den somatoformen bzw. funktionellen Störungen
Prof.Henningsen, Neurologe und Psychotherapeut, TU München und Mitglied der Leitlinienkommission, der u.a.
für wissenschaftliche Fortbildungsveranstaltungen Honorare von
Lilly bezieht
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
landei - 02.12.2012
gelöscht
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
landei - 02.12.2012
Leitlinie für den Schreibtisch
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
judy - 03.12.2012
Hallo Pali,
ich seh das auch ziemlich kritisch.
Meiner Meinung nach macht das die "Psychiatrisierung" bei "schwierigen" Patienten noch einfacher.
Auch wird eine somatische Abklärung der Symptome sehr eingeschränkt.
Das ist sehr negativ für Menschen, deren Beschwerden doch physischer Natur sind und die eventuell behandelt werden könnten. Also kurz für Menschen wie uns.
Insgesamt finde ich es schon sehr befremdlich, wie sich Mediziner auf so etwas einigen können.
Es ist eben einfach ein Konsens. Für psychosomatische oder psychiatrische Diagnosen ist die harte "Beweislage" häufig ja noch viel dünner als für andere Erklärungsmodelle z.B. des CFS, des "Reizdarms" und natürlich chronischer Infektionen.
Vor 20 Jahren gab es z.B. die "Krebspersönlichkeit". Ja, ja, Menschen, die besonders zögerlich und ängstlich waren, hatten damals ein höheres Risiko, an Krebs zu erkranken.
Auch gab es den typischen Magenkranken, alles psychisch.....
Wenn dann ausreichend Evidenz für somatische Krankheitsursachen vorliegt, nimmt man wieder Abstand von den psychogenen Ursachen.
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
Pali - 03.12.2012
(03.12.2012, 17:53)judy schrieb: ...Insgesamt finde ich es schon sehr befremdlich, wie sich Mediziner auf so etwas einigen können.
...
Ich vermute, das liegt einfach darin, daß Mediziner, (wie vermutlich die meisten Menschen) nicht gerne zugeben, daß sie etwas nicht erklären können, nicht verstehen. Die moderne Medizin nimmt gerne von sich an, daß sie für alles ein klares Modell hat, da paßt eine Aussage wie z.B. "wir können die Ursache nicht klären" nicht rein. Ich habe sowas schon von mehr als einem Hausarzt gehört, aber führende Koryphäen der Medizin können sich so etwas nicht leisten, das wäre der Untergang ihrer Autorität, ihrer Aura von "allwissenheit". Also hat man für alles, wofür man keine Erklärung bzw. kein Test hat, eine Schublade, die einen Namen tragen muß. Aktuell heißt das eben "psychisch". Gleichzeitig unterstellen sie anderen, daß diese ebenso alles, was nicht erklärbar ist, undifferenziert und unbegründet Borreliose nennen würden. Ob diese Anschuldigung in der eigenen Logik wurzelt?
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
Filenada - 03.12.2012
Es sind aber nicht nur die Ärzte, die alles gern auf die Psyche schieben.
Ich war letztens bei einem Vortrag eines Heilpraktikers, auf dem ich gelernt hab *hüstel*, daß JEDE Krankheit zurückzuführen ist auf die Psyche. Auf Probleme in der Kindheit, auf Probleme der Mutter in der Schwangerschaft, auf schlechte Charaktereigenschaften und und und...

Hätte ich auch nur ansatzweise geahnt, was da für ein geistiger Dünn... erzählt wird

, mir wären spontan mindestens drei Millionen andere Zeitvertreibungsideen eingefallen.
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
judy - 04.12.2012
Ja, dieses Denken ist echt weit verbreitet, Filenada.
Auf der einen Seite ist es sicherlich nicht falsch Psycho-Soziales mit einzubeziehen. Und dass Psycho-Soziales sogar naturwissenschaftlich nachweisbar Einfluss auf z.B. unser Immunsystem hat, ist ja heute auch bekannt.
Doch alles ständig auf die frühe Kindheit, Probleme mit der Mutter... zu schieben ist doch sehr fraglich. Freud läßt grüßen. Im Einzelfall, wenn echt schreckliche Dinge in der frühen Kindheit passiert sind, ist das ja nachvollziebar.
Ich frag mich immer wie es wohl Menschen, die ihre Kindheit im zweiten Weltkrieg verbracht haben, schaffen konnten, nach sicherlich vielen Unwägbarkeiten und psychischen (ev. auch physischen) Verletzungen ein einigermaßen ordentliches Leben zu leben? Oder Menschen aus anderen Kriegsgebieten heute? Wer durfte sich denn da jahrelang zur Psychoanalyse auf die Couch legen???
RE: Neue Leitlinie - betrifft es uns? -
Rosenfan - 04.12.2012
Judy + Filenada - ich kann Euch nur zustimmen. Und es immer sehr einfach, alles auf die Mutter zu schieben! Wo bleibt da eigentlich der männliche Part?
So nebenbei - ich habe dieses Jahr 7 Wochen wegen angeblicher psychosomatoformer Störung in einer Klinik verbracht. Einige Wochen später wurde ich operiert und meine psych.Störungen wurden entfernt
Bei solchen Fehldiagnosen brauchen wir uns nicht wundern, dass die Kosten im Gesundheitswesen immer mehr steigen.
Gruß - Rosenfan
Auf Seite 2 - schädlich für den Patienten:
Dem Patienten die Beschwerden absprechen („Sie haben nichts“,
Das gilt sicher nicht nur in der Psychotherapie...