Ich kann's inzwischen nicht mehr hören und bin bis übern Eichstrich genervt.
Und zwar von Aussagen wie "Wir werden sowieso alle sterben!" über "Ich gehöre ja nicht zur Risikogruppe." bis hin zu "Konzerte werden abgesagt, aber der ÖPNV fährt weiter, da kann ich mich viel eher anstecken." - Ist das naives Denken oder Ignoranz von Informationen oder Selbstüberschätzung oder purer Egoismus?
Prof. Dr. Drosten (Mediziner + Virologe an der Charité + Mitentdecker des SARS-Virus 2003)
heute auf NDR:
"Die Todesfälle von in einem Monat sind die Infizierten von heute. [...] Wollen wir wirklich so lange warten und wollen wir wirklich sagen in einem Monat, wollen wir da wirklich sagen: Hätten wir doch damals einfach auf die Daten gehört! Und auch auf Experten aus dem Ausland gehört, auf Intensivmediziner, die verzweifelte Botschaften an deutsche Zeitungen richten und sagen: Sagt das bitte Euren Ärzten, was hier passiert!"
Wie z. B.
Dr. Daniele Macchini, der die Intensivstation in Bergamo (Lombardei, Italien) betreut:
"Ich verstehe die Notwendigkeit, keine Panik zu erzeugen. Aber wenn die Tragweite dessen, was passiert, die Menschen nicht erreicht und ich immer noch spüre, dass sich Menschen einen Dreck um die Empfehlungen scheren und sich beschweren, weil sie nicht ins Fitnessstudio oder Fußballspiele gehen können, dann erschaudere ich."
Weitere Worte aus Italien
hier.
Italien hat uns gegenüber knapp anderthalb Wochen Vorsprung. Für uns also ein Blick in die Zukunft -
wenn hier nichts passiert. Und da denke ich nicht nur an die politischen und behördlichen Entscheidungsträger, sondern vor allem an alle Menschen. Nämlich wie wir mit dem Thema umgehen.
Es geht um die
Eindämmung der Verbreitung. Wir können uns nicht auf den 80 % ausruhen, für die eine Infektion wie 'ne Pillepallegrippe abläuft. Wir müssen stattdessen an die 20 % denken, von denen - so die bisherige Datenlage - 5 % eine intensivmedizinische Betreuung brauchen. Wenn die Verbreitung so weitergeht wie momentan, haben wir dasselbe Desaster wie in Italien.
Da hilft uns auch nicht, daß wir in Deutschland im Durchschnitt (Stand 2016) 8,0 sogenannte Planbetten
* pro 1000 Einwohner haben (Italien nur 3,2), denn was dann gebraucht wird, sind Intensivmedizinbetten, von denen wir in ganz Deutschland nur 28.000 haben (davon z. Z. ca. 80 % belegt).
Klar, wenn man irgendwo uffm Land lebt, kann man das zum jetzigen Zeitpunkt alles noch recht entspannt sehen. In einer Großstadt vergeht einem dann schon das Lachen.
Beispiel Berlin: Wir ham hier 3,6 Mio. Einwohner, incl. Speckgürtel (meist Berliner, die ins Umland gezogen sind, aber in Berlin arbeiten) sind's 4,5 Mio. Dazu kommen pro Jahr 13,5 Mio. Touristen. Mehr als 3 Mio. Menschen benutzen Tag für Tag die öffentlichen Verkehrsmittel. Das alles sind schon genug Multiplikationsmöglichkeiten. Das Gesundheitssystem in Berlin ist im Laufe der Zeit (nicht erst seit der jetzigen Regierung) so kaputtgespart worden, daß wir hier nur 5,6 Planbetten pro 1000 Einwohner haben (Stand 2017; zur Erinnerung: Bundesdurchschnitt 8,0). Die sind aber nicht frei, sondern z. B. bei den landeseigenen Vivantes-Kliniken zu 90 % belegt. Außerdem fehlt seit Jahren Personal, sodaß letztens sogar die Aufnahme in der Intensivstation der Kinderonkologie geschlossen werden mußte (wie im Land Brandenburg zur Zeit Kreißsäle in mehreren Städten).
Auch wenn die Charité (eine der größten Unikliniken Europas) gestern noch 100 zusätzliche Beatmungsgeräte bestellt hat (ob die Hersteller welche auf Lager haben, war gestern noch nicht klar), weil wir in ganz Berlin (50 Krankenhäuser mit Planbetten) nur 1050 Stück haben, würden wir so einen Einbruch wie im chinesischen Wuhan oder Norditalien niemals stemmen können, ohne im Endeffekt auch mit vielen Toten dazustehen.
In Berlin hamwa zum jetzigen Zeitpunkt 90 bestätigt Infizierte, gestern waren es 58 (26 davon ham sich letzten Sonnabend in zwei Clubs angesteckt). Die sogenannte Dunkelziffer dürfte hier um ein enormes Vielfaches höher sein. Die Zahlen kommen nur von denen, die Symptome haben UND getestet wurden. In Berlin wird aber nur derjenige getestet, der Symptome UND Kontakt zu
bestätigten Fällen hatte oder Symptome hat UND in einem Risikogebiet war (Italien zählte Anfang letzter Woche noch nicht dazu). Ansonsten interessiert es hier niemanden.
Ich hab's letzte Woche selbst durch. Der Höhepunkt (schon die telefonische "Coronavirus-Hotline" war ein Höhepunkt an sich, nachdem ich beim 61. Versuch durchgekommen bin) war dann, daß mich in der Hausarztpraxis kein Mensch nach Kontakt zu Infizierten oder Reisen fragte. Im Wartezimmer hatten von 10 unbestellten Patienten 7 Husten. Der Doc guckte mir ohne Atemschutzmaske (die Berliner Ärzte haben nämlich immer noch keine bekommen) in den Rachen, erzählte dann was von Viren und - jetzt der Höhepunkt für alle hier im Forum - gab mir ein Rezept für Amoxicillin
, "falls es schlimmer wird".
So wird hier in der Stadt (ich bin leider kein Einzelfall) die Theorie von RKI, Gesundheitsministerium und Berliner Gesundheitssenatorin praktisch umgesetzt.
Deshalb finde ich es so entsetzlich wichtig, daß jeder Einzelne in den nächsten Wochen genau abwägt, welche Kontakte wichtig sind (arbeiten muß man nun mal) und welche Aktivitäten man meiden könnte. Gerade wir Forumnutzer hier, deren Immunsystem entweder mit anderen Erregern zu hat oder nicht richtig funktioniert oder durch z. B. Immunsuppressiva runtergefahren ist, sollten darüber nachdenken. Und daß auch wir Überträger sein können für andere. Die Letalität für Ältere (ab 65) war ja Thema in dem Link, den Ticks im Eingangsthread gepostet hatte. 20 - 25 % kann niemand ignorieren, finde ich.
Und wer das mit dem exponentiellen Wachstum von SARS-CoV-2 noch nicht verstanden hat,
liest hier nach.
* - Planbetten sind die Klinikbetten in "normalen" Krankenhäusern bzw. Stationen. Also
nicht die in Sonder-, Entzugs- oder Vollzugskliniken, in Hospizen, in Bundeswehrkrankenhäusern, auf Frühchenstationen, in Reha-, Pflege- und Geriatrieeinrichtungen usw.