Gute Frage! Psychische Störungen müssen genau so sorgfältig diagnostiziert werden wie organische Störungen.
Wenn Ärzte einfach mal so psychische Störungen in den Raum werfen, ohne deren Kriterien zu beachten, ist das so, als wenn der Psychotherapeut organische Diagnosen vergeben würde. Sehr unprofessionell!
In Deutschland wird eigentlich immer nach der ICD-10 diagnostiziert (in Amerika gibt es noch das DSM, hat sich aber hierzulande nicht so durchgesetzt).
In der ICD-10 gibt es ein Kapitel F "Psychische und Verhaltensstörungen" - der F-Bereich ist also der "Psycho"-Bereich
Depression: Unter Kapitel 3 (affektive Störungen), hier wird meist eine F32-Nummer verwendet "depressive Episode" (F32.0 leichte depressive Episode, F32.0.01 leichte depressive Episode mit somatischem Syndrom, F32.1 mittelgradige depressive Episode, F32.1.01 mittelgradige mit somatischem Syndrom....)
Leitsymptome:
- gedrückte Stimmung
- Interessensverlust, Freudlosigkeit
- Verminderung des Antriebs, erhöhte Ermüdbarkeit
Somatoforme Störung: Unter Kapitel 4 (neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen), F45 sind "somatoforme Störungen" (F45.0 Somatisierungsstörung, F45.2 hypochondrische Störung, F45.3 somatoforme autonome Funktionsstörung...)
- körperliche Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind
- körperliche Symptome erklären nicht das Leiden und die innere Beteiligung
- auch wenn Symptome enge Beziehung zu Lebensereignissen haben, widersetzt sich Patient, psychische Ursachen zu diskutieren
- das zu erreichende Verständnis für die körperliche oder psychische Verursachung der Symptome ist häufig für Patienten und Arzt enttäuschend
- aufmerksamkeitssuchendes Verhalten.....
Wenn du genauer wissen möchtest, wie die Diagnostik ablaufen sollte,
findest du die Antwort in den AWMF-Leitlinien. Die für Depression z.B. hier:
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlin...-01_01.pdf
Es ist aber nicht so, dass bestimmte Tests vorgeschrieben sind. Vielmehr müssen die Definitionskriterien beachtet und die Symptome erfragt werden. Da ist also viel Spielraum... leider auch für schlechte Diagnostik.
Zur 1-Stunden-Diagnostik: Der Arzt müsste alle potentiellen organischen Ursachen ausschließen, eine sorgfältige Anamnese erheben und eine sorgsame Differentialdiagnostik im F-Kapitel betreiben. Also zu in Frage kommenden Störungen die Kriterien und Symptome erfragen. Kommt mir bisschen viel vor für eine Stunde....
Was immer wieder von den Ärzten verdrängt wird:
Natürlich dürfen die Symptome keine organischen Ursachen haben! Sonst hätte ja jeder Borreliosepatient eine somatoforme Störung!!!
Deswegen muss zuerst die sorgfältige medizinische Abklärung stehen, bevor psychische Störungen als Ursachen herangezogen werden.
Vor einer Psychotherapie steht z.B. deswegen auch der organische Befund an.
In den psychischen Leitlinien finden sich hierzu keine Hinweise, weil ja davon ausgegangen wird, dass nur Patienten kommen, die organisch abgeklärt wurden und keine organischen Krankheiten haben.
Es ist sehr ärgerlich, wenn Ärzte keine Zeit für eine sorgfältige organische Diagnostik haben und dann ihre Versäumnisse mit einer oberflächlichen "Psycho-Diagnose" kaschieren, ohne die Definitionskriterien zu beachten. Das macht dann nämlich den Eindruck, als ob es für psychische Störungen keine Leitlinien gäbe und man keine Qualifikation besitzen muss, um psychische Störungen zu diagnostizieren. Das ist aber Ausdruck in der Hierarchie Arzt - Psychotherapeut. Auch wenn der Psychotherapeut ein Psychologie-Studium und eine lange und teure Psychotherapeuten-Ausbildung mit unzähligen Praxisstunden und Supervision hinter sich hat (mind. 3, meistens mehr Jahre), ist er dem Facharzt nicht gleichgestellt.
Was ist aber, wenn man zur Unterstützung der Borreliose eine Psychotherapie machen möchte, aber keine psychische Störung vorliegt - damit die Psychotherapie als Kassenleistung übernommen wird, ist eine Diagnose notwendig!
Dann kann der Psychotherapeut z.B. die F43 (Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen) nehmen (z.B. die F43.0 akute Belastungsreaktion, F43.2 Anpassungsstörungen...)
Ich denke, dass die Zunahme von fälschlicherweise vergebenen psychischen Störungen nicht den Stand einer einzelnen Fachrichtung zeigt, sondern vielmehr Ausdruck der Situation unseres Gesundheitssystems und des Verhältnisses der Fachrichtungen zueinander ist. Ich glaube, dass viele Ärzte sehr überfordert sind aufgrund ihrer Arbeitssituation, hinzu kommt noch der Allwissenheitsanspruch, den Patienten und Ärzte selbst an sich haben. Und wenn es dann für einen kranken Patienten keine schnelle Erklärung gibt, ist eine psychische Störung eine schnelle und "bequeme" Problemlösung.