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Mai ist Lyme Disease Awareness Monat. Lyme Disease ist im deutschsprachigen Raum bekannt unter Borreliose. Borreliose wird von Zecken übertragen. Fiasko-Blog Tag 4.
Über den "Experten"-Streit habe ich schon am Tag 1 und 2 geschrieben. Aber was bedeutet es für die Patienten in der Praxis?
Die "Programmierer" geltender Lehrmeinung stellen sich auf den Standpunkt, Borreliose sei einfach zu diagnostizieren und therapieren und chronische Verläufe seien selten. Die Diagnose ist nur einfach, wenn die typsiche Wanderröte auftritt, die ausbleiben kann. Der Range liegt je nach "Experte" bei 30 bis 90 %. Aus meiner Beratungserfahrung weiss ich, dass Wanderröten teilweise nicht behandelt werden, wenn der Ring fehlt, obwohl ein Zeckenstich erinnerlich ist. Trotzdem im Frühstadium die Heilungschancen hoch sind, werden hier bereits Chancen vertan, weil die Diagnose offensichtlich doch nicht so einfach ist, nicht mal wenn beweisende klinische Befunde vorliegen. Des weiteren werden trotz beweisender Wanderröte Labortests zur Sicherung der Diagnose veranlasst, obwohl geltende Lehrmeinung wegen der hohen Rate an falsch negativen Laborbefunden im Frühstadium zur sofortigen Behandlung rät. Handelt es sich dabei um fehlenden Fortbildungswillen oder ist die Borreliose in der Arztpraxis schon ein solches Unding, dass man von fehlendem Diagnosewillen sprechen muss?
Jedenfalls kann es sein, dass der Patient sich schon im Frühstadium im Internet oder bei einer Selbsthilfegruppe schlau machen muss, wenn er das Risiko eines chronischen Verlaufs minimieren möchte. Die Berater der Selbsthilfe arbeiten alle ehrenamtlich. Dafür, dass sie die mangelhafte Fortbildung und Foschung ausgleichen, dürfen sie dann in Medienbeiträgen lesen und hören, dass sie Panik verbreiten und zu allerlei Unfug raten würden. Die Heimtücke der Borreliose, die dazu führt, dass eine Wanderröte auch ohne Behandlung abheilt und es Wochen bis Jahre dauern kann, bis Symptome der späteren Stadien auftreten, macht die Sache nicht einfacher.
Ist die Diagnose mal gestellt, geht es weiter mit der allgemeinen Verunsicherung. Derweil geltende Lehrmeinung und Fachinformation für die jeweiligen Medikamente die Therapie im Frühstadium auf maximal drei Wochen bei einer Dosis unabhängig des Körpergewichts bei Erwachsenen und unabhängig vom klinischen Verlauf plafoniert, raten andere "Experten" mit ihren Leitlinien, die von geltender Lehrmeinung abgelehnt werden, zu gewichtsadaptierter und längerer Dosierung von vier bis sechs Wochen, abhängig vom klinischen Verlauf. Weder für die einen noch die anderen Empfehlungen bestehen genügend belastbare Daten, insbesondere wenn aus irgendwelchen Gründen auf andere Antibiotika als Doxycyclin ausgewichen werden muss. Spätestens jetzt ist der betroffene Patient komplett verunsichert und verwirrt, denn er weiss ja noch nichts über das Experten-Hick-Hack bei der Borreliose. Da ist es vielleicht besser, man glaubt dem Arzt und geht sich nicht informieren. Leider steigt damit dann wiederum das Risiko eines chronischen Verlaufs, wenn sich die Borreliose nicht ans Schulbuch oder das gerade herrschende, vermeintliche Arztwissen hält.
Ist die Therapie durchgezogen, wird oftmals ein Bluttest gemacht statt kontrolliert, ob der Patient noch verdächtige Symptome hat. Die teuren Tests können aber nicht zwischen früher durchgemachter und aktiver Infektion unterscheiden, was in vielen Arztpraxen offensichtlich noch nicht angekommen ist. Die Testergebnisse können steigen, sinken oder gleich bleiben, ohne dass man daraus Erkenntnisse gewinnen könnte. Zurück bleibt ein verunsicherter, nicht über mögliche Symptome der Spätstadien aufgeklärter Patient, der fortan mit der Ungewissheit leben muss, vielleicht eines Tages schwer an einer Borreliose im Spätstadium zu erkranken. Vielleicht wäre es besser, der Patient informiert sich nicht. Aber dann hat er wieder das Risiko der verpassten Heilungschancen.
Hat der Patient nach Ende der Therapie noch Symptome, geht das grosse Rätselraten los. Die Tests können nichts. Die Symptome sind dubios und unspezifisch, ausser wenn die Wanderröte noch zu sehen ist. Geltende Lehrmeinung rät an erster Stelle, die Diagnose zu überprüfen. Was gibts an einer Wanderröte nach Zeckenstich zu überprüfen und vor allem: womit soll man es überprüfen, wenn die Tests nichts können und die Symptome unspezifisch sind? Bei solchen Verläufen kommen dann die anderen "Experten" ins Spiel, die eben behaupten, Borreliose sei schwierig zu diagnostizieren und therapieren. Leider arbeiten in D wegen den Regressen nur noch sehr wenige solcher "Experten" auf Kasse und die Kosten müssen zu grossen Teilen privat getragen werden. In der Schweiz wüsste ich nicht, wo ich einen solchen Patienten hinschicken sollte.
Die sogenannten Borreliosespezis machen dann in der Regel weitere Tests, wie z.B. LTT oder ELISPOT, die angeblich aktive von abgelaufenen Infektionen unterscheiden können. Über die Zuverlässigkeit dieser Tests kann aber auch nur wenig bis gar nichts ausgesagt werden. Sie müssen privat bezahlt werden. Bei den Goldgräbern (nicht alle!) unter den Borreliosespezis werden dann auch gleich noch weitere privat zu bezahlende Therapien verschrieben, für deren Wirkungen und Nebenwirkungen null belastbare Daten zur Verfügung stehen. In der Beratung entsteht bei mir der Eindruck, dass einige Borreliosespezis auch nicht über die Unsicherheiten der alternativen Tests und Therapien aufklären. Das überlässt man dann getrost den Beratern der Selbsthilfe, die oftmals selbst betroffen sind und am Limit ihrer Leistungsfähigkeit Fehlinformationen richtig stellen - ehrenamtlich, derweil die Goldgräber abzocken. Zurück bleibt ein massiv verunsicherter Patient, der nicht mehr weiss, wem oder was er glauben soll.
Alles einfach? Wo ist das Problem? Ich kann die Herausforderungen sehen. Du auch?
Ups! Wir sind ja immer noch beim Frühstadium, dass angeblich einfach diagnostiziert und therapiert werden könne. Also ich finde die Unwegsamkeiten beim Frühstadium nicht einfach. Fortsetzung folgt.......
Je mehr ich über die Borreliose weiss, desto mehr weiss ich, dass man fast gar nichts weiss.
Nichts auf der Welt ist gefährlicher als aufrichtige Ignoranz und gewissenhafte Dummheit. (Martin Luther King)
Absenz von Evidenz bedeutet nicht Evidenz für Absenz